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Satzklammer und Ausklammerung


Date: 2015-10-07; view: 749.


 

Wir haben bisher eine wichtige Eigenart der Wortstellung im Deutschen un­erwähnt gelassen, die Umklammerung. Man versteht darunter die Ein­rahmung bestimmter Satzteile durch die Elemente eines Satzgliedes oder ei­ner satzgliedähnlichen Form, z.B. die Einbettung von attributiven Zusätzen zwischen den Artikeln und dem dazugehörigen Substantiv oder von Objek­ten und adverbialen Angaben zwischen finitem und infinitem Verbteil analy­tisch gebildeter Verben.

Wir wenden uns hier besonders der wichtigeren verbalen Satzklammer zu; auf die substantivische Klammerform kommen wir an anderer Stelle zu­rück (vgl. S. 121f.). Die verbale Satzklammer, die sich im Laufe mehrerer Jahrhunderte als Strukturform des deutschen Satzes herausgebildet und eine fast gesetzmäßige Gel­tung erlangt hat, kann auf verschiedene Weise realisiert werden. Die häufigste Form ist die Klammerbildung (der »Aussagerahmen«40) mit Hilfe von finiter und infiniter Verbform bei zusammengesetzten Verbformen, wie sie für das Perfekt, Plusquamperfekt, Futur I und Futur II und die entsprechenden Passivformen (einschließlich Zustandspassiv) üblich sind.

Wir haben seinen Stern im Morgenland gesehen. (Matth. 2,2)

Er hatte die Angelegenheit im Laufe des Tages völlig vergessen.

Du wirst, wenn du diesen Fluß überschreitest, ein großes Reich zerstören.

Er wird während dieser Ereignisse dort gewesen sein.

Er ist ohne Grund von anderen Kindern auf der Srtaße verprügelt worden.

Alle Türen waren in dieser Morgenstunde weit geöffnet.

Auch Entscheidungsfragen können auf diese Weise gebildet werden:

Hat er die Angelegenheit völlig vergessen?

Rückt der satzschließende Verbteil bei besonderer Hervorhebung (expressiver Wortstellung) in die Ausdrucksstelle des Satzes (Satzanfang), so folgt ihm das finite Verb. Eine Klammerbildung ist so nicht möglich:

Zerstören wirst da ein großes Reich, wenn du diesen Fluß überschreitest.

Recht beliebt ist auch die Klammerbildung mit Hilfe von Modalverben und abhängigen Infinitiven sowie anderen Infinitivergänzungen:

Bei einer Afrikareise muß man sich an die Bedingungen des Klimas und an die Sitten des Landes gewöhnen. – Der Lärm des Rummelplatzes war besonders am Abend noch mehrere Straßen weit zu hören.

Eine weitere Form der Satzklamrner entsteht durch die Trennung von finitem Verbteil und Verbzusatz bei trennbaren Verben:

Er las die ganze Geschichte an einem Abend vor.

Klammerbildungen sind auch mit Hilfe von regelmäßigen Kombinationen von Substantiven mit bestimmten Verben möglich:

Der Zug setzte sich nach einem Geschnaufe und Getute langsam in Bewegung.

Man kann sogar die fakultativen Verbindungen einzelner Verben mit bestimmten adverbialen Angaben (z.B. Das Kind lief während der Pause vom Schulhof auf die Slraße) in gewissem Sinne als Klammerbildungen auffassen. Auch sonst neigt der deutsche Satzbau, indem er das Sinnwort ans Satzende rückt, zu ähnlichen Klammerbildungen (z.B. zwischen Nebensatzeinleitung und satzschließendem Verb, zwischen adverbialen Angaben und zugehörigem Verb, Sätzen mit Artergänzung):

Wenn er das nicht sofort an seinen Freund weitergibt, dann ...

Die Sterne leuchteten in dieser Nacht im Westen besonders hell.

Die Burg war an klaren Tagen bis hin zur Stadt sichtbar.

Wir haben zur Verdeutlichung verhältnismäßig kurze verbale Klammern gewählt. Das Gesetz der Klammerbildung gilt aber ebenso für längere Sätze. Begrenzungen sind auch hier nur von der Überschaubarkeit, Verständlichkeit und Angemessenheit her geboten, die Entscheidung darüber ist wiederum – wie so oft – in das Stilempfinden des Sprechers bzw. Autors gelegt.

Die Neigung mancher Autoren oder Redner, die Satzklammer reichlich zu füllen und erst spät zu schließen (die in Schrifttexten noch eher akzeptiert werden kann als in Reden, Vorträgen, Gesprächen), erschwert selbst den Kennern des Deutschen das Verstehen. Das spöttische Attendez le verbe! (»Warten Sie auf das Verb!«) als Antwort auf Fragen nach dem Sinn mancher deutscher Reden ist daher zugleich eine Satire auf lange Klammersätze.41 Der amerikanische Schriftsteller Mark Twain, dessen Aufsatz über die deutsche Sprache42 manche kritischen Beobachtungen enthält, sucht die Unangemessenheit der Klammerbildungen an folgendem (satirisch übertreibenden) Beispiel einer Satzrahmenbildung aufzuzeigen:

Er reiste, als die Koffer fertig waren und nachdem er die Mutter und Schwester geküßt und nochmals sein angebetetes, einfach in weißen Musselin gekleidetes, mit einer frischen Rose in den sanften Wellen ihres reichen braunen Haares geschmücktes Gretchen, das mit bebenden Gliedern die Treppe herabgeschwankt war, um noch einmal sein armes gequältes Haupt an die Brust desjenigen zu legen, den es mehr liebte als das Leben selber, ans Herz gedrückt hatte, ab.

Twain kommentiert dazu: »Man denkt dabei unwillkürlich an jene Zahnärzte, die, nachdem sie den Zahn mit der Zange gefaßt und einen dadurch in den höchsten Grad atemloser Spannung versetzt haben, sich hinstellen und einem in aller Behaglichkeit eine langweilige Geschichte vorkauen, ehe sie den gefürchteten Ruck tun. In der Lileratur und beim Zahnausziehen sind Einschaltungen gleich übel angebracht.«43

Twains Kommentar (oder seine Übersetzung) beweist, daß die Feststellung seines Schlußsatzes nicht uneingeschränkt gilt, sonst dürften auch keine nachträglichen Zusätze (hier: die, nachdem ... vorkauen) erlaubt sein. Das Satzbeispiel, das er anführt, zeigt allerdings, wie eine Satzklammer nicht gebildet werden sollte. Hier sind mehrere Handlungsfolgen ineinander verschränkt worden, die mit den gleichen Worten angemessen in zwei getrennten Satzgefügen und einem einfachen Satz zu sagen wären, sofern man nicht auf die unglückliche Verquickung von Handlungsschilderung und sentimentaler Beschreibung der Geliebten verzichten will.

Twains Beispiel, das 67 Wörter zwischen die Verbform »reiste« und den Verbzusatz »ab« spannt, zeigt zugleich, daß zwischen dem finiten Verb (Ausgangspol) und dem Satzschluß (Zielpol) keine zu große Klarnmerfüllung stehen darf und daß der Zielpol nicht zu schwach und unscheinbar, sondern quantitativ und qualitativ gewichtig genug sein sollte, um ein Achtergewicht zur vorangehenden Satzgliedhäufung zu bilden. Wesentlich ausgeglichener wirkte ein solcher Satz, wenn es hieße:

Er reiste, nachdem er sich von Mutter, Schwester und Braut zärtlich verabschiedet hatte, endlich nach Wien ab.

Noch besser klänge allerdings in solchen Fällen die Voranstellung des temporalen Nebensatzes (nachdem... hatte, reiste ... ab).

Bei derartigen Klammerbildungen ist ferner darauf zu achten, daß die Vorstellungserwartung durch den Ausgangspol und die Folgewörter auch unmißverständ1ich auf den Zielpol hingeleitet wird (also nicht: Dann platzte die Frau, die lange geschwiegen hatte, eidlich mit ihrer Nachricht heraus, sondern allenfalls: Nachdem sie lange geschwiegen hatte, platzte die Frau endlich mit ihrer Nachricht heraus).

Wir könnten die Satzklammer nicht zu den Stilmitteln rechnen, wenn sie die einzige Ausdrucksform der postverbalen Satzgestaltung wäre. Neben manchen lexikalischen Mitteln, einer Klammerstellung zu entgehen (Wahl nicht trennbarer Verben, synthetisch gebüdeter Tempora u.dgl.), verfügt die deutsche Sprache über obligatorische wie fakultative Möglichkeiten der Ausklammerung von Satz-gliedern aus dem verbalen Satzrahmen des Hauptsatzes wie auch des Nebensatzes.

Solche Ausklammerungen sind vor allem im mündlichen Sprachgebrauch lebendig und wirken von hier aus immer mehr auf die Schriftsprache ein.44 Der Spannungsbogen zwischen Ausgangspol und Zielpol wird dabei verkürzt, selten ganz beseitigt.

Als allgemeiner Grundsatz der Ausklammerung gilt: »Wenn ein Satzglied stark aufgeschwellt ist, dann vermag die verbale Klammer die Last nicht mehr zu tragen. Der Verbzusatz würde in einem solchen Falle bei der Einklammerung nach-klappen.»45 Eine Ausklammerung erscheint daher bei größeren Satzerweiterungen und bei Gliedsätzen (besonders Relativsätzen) und satzwertigen Infinitiven sinnvoll.

Allerdings dürfen dabei keine Mißverständnisse auftreten. Also nicht: Er trug die Bedenken mit großer Entschiedenheit vor, die ihn zu der Ablehnung veranlaßt hatten, sondern: Er trug die Bedenken, die ihn zur Ablehnung des Antrags veranlaßt hatten, mit großer Entschiedenheit vor (besser: sehr entschieden oder: mit großer Entschiedenheit trug er die Bedenken vor, die ihn...).

Ausklammerungen einzelner Satzglieder erfolgen – nach Auffassung P. Grebes in der Duden-Grammatik (21966, S. 637) »immer aus stilistischen Gründen. Sprecher oder Schreiber können dabei die Absicht haben, ein unwichtiges Satzglied nachzutragen, wodurch oft der verbale Inhalt besonders hervorgehoben wird, oder aber einem Satzglied durch das Satzglied besonderes Gewicht zu verleihen«. Durch die Ausklammerung gewinnt ein Satz zudem an Übersichtlichkeit, oft auch an rhythmischem Wohlklang.46

Häufig – und wohl nicht immer stilistisch bedingt – sind Ausklammerungen bei Vergleichen:

Manchmal ... kommt er mir vor wie der liebe Gott. (M. Frisch, »Stiller«)

Auch präpositionale Angaben werden gern ausgeklammert. Sofern dabei Verbform und Präposition zusammengehören und die präpositionale Angabe die einzige Verbergänzung bleibt, entfällt oft die Klammerform:

Er dachte zurück an die Kriegszeit (seltener: an die Kriegszeit zurück).

Er mußte zurückdenken an die Kriegszeit (neben: Er mußte an ... zurückdenken).

Die Ausklammerung bestimmter Satzteile ist mitunter ein charakteristisches Stilmittel des Personalstils, das manche Autoren nur selten, andere häufiger verwenden:

Er ist nicht zu sprechen vor Glück. (M. Frisch, »Stiller«)

Er blies die Backen auf vor Zorn. (K. Edschmid, »Der tödliche Mai«)

Die Ausklammerung tritt erst in der neueren Zeit häufiger als Stilmittel der modernen sprachbewußten Dichtung auf. So ist sie neben anderen Sonderformen der Wortstellung (Hauptsatzstruktur von Nebensätzen, expressive Umstellungen, verfremdende Adverbstellungcn u.ä.) häufig bei Uwe Johnson zu finden:47

Sie stiegen aus und kamen vorbei an einem schon halb abgesperrten Platz ... Er war erst vor wenigen Stunden zurückgekommen mit dem Rennen durch die Länder und nicht an seinem Ende (»Das dritte Buch über Achim«)

Auch andere Gegenwartsautoren nutzen dieses Stilmittel zur textlichen Verfremdung oder zur Annäherung an die Volkssprache:

Die Verbindung mit der Zentrale sollte herstellen und halten ein regelmäßiger Wagenpendel. (J. Becker, »Im Bienenbezirk und Ameisen«)

Da rief der Mann mit einer leisen harten Stimme, die schwankte vor mordlüsterner Erregung. (G. Wohmann, »Muränenfang«)

 


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